Gruppendynamic im Egelglas

von oben nach unten: der Streber, der betreute Trinker und die Ulknudel.
(keine Lust auf Gruppenbild: der Verweigerer)

Da hänge ich so rum, wie der Egel im Einmachglas, und weiß nichts mit mir anzufangen … zwangsläufig beginnt man wohl, sich über die wirklich wichtigen Dinge im Leben Gedanken zu machen, z.B. über das Innenleben von Blutegeln.

Für die Newbies in Sachen alternative Heilverfahren, Hirudinea aus der Familie bzw. Ordnung der Hirudinidae und aus der Teilklasse Euhirudinea (Wiki sei Dank für diese Aufklärungsarbeit), ist eine wahre Wunderwaffe gegen zahlreiche Erkrankungen nicht nur beim Menschen, sondern z.B. auch beim Pferd.

Der häufige Einsatz der kleinen Vampire im equinen Bereich ist wohl nicht zuletzt darauf zurück zu führen, dass sich unsere jahrtausendelang domestizierte Reituntersätze/ Ersatzpflegekinder nur noch ungenügend gegen gewisse medizinische Behandlungen zu wehren vermögen. Ich als Vertreter einer humanoiden Lebensformen kann mich da eloquenter äußern: „Die kriegen mein Blut nicht!“

Ja, ich gestehe, ich finde Egel jeglicher Fasson zwar irgendwie schon etwas interessant, aber insbesondere und vor allem total ekelig. Es brauchte einige Jahre Antischeutraining, bis ich die klitschigen Dinger überhaupt mal anfassen konnte – geschützt durch 2 Lagen Gummihandschuhe natürlich. Sowas kommt mir nicht an die nackte Haut!

Aber meine Pferde haben da ja kein Mitspracherecht. Es sei denn, sie äußern sich so eindeutig wie der Atse, der meine Aversion gegen die Klitschdinger zu teilen scheint und wahlweise selbige oder als Kollateralschaden auch mich umzubringen versucht. Den Gift und Galle spuckenden Friesenheimer will ich nicht mal nem ausgebildeten Therapeuten zumuten, aber es gibt ja auch noch das artige Schimmel-Kind mit seinen Zipperleinchen – aktuell ein manchmal etwas angelaufener, manchmal auch nur mit viel Einbildungskraft, Haxen. Alarm, Alarm schreit der Unterstützungsband-Sensor. Und da der hypochondernde Noteinkauf meiner inneren Helikopterpferdemama bei einem namenhaften Hersteller von sauteuren Pferdezusatzfuttermitteln noch nicht ausreichte, mussten auch noch ein paar Doktoren im Schleimgewand her!

Vier Stück an der Zahl ließ die Ärztin meines Vertrauens rüber wachsen, mit den Worten „Du kannst das doch selber, oder?“ „Klar“ antwortetet ich selbstbewusst. Hatte zwar keine Ahnung, was Lola vom Aderlass halten wird, aber ich habe ja auch noch die Notfallvariante in petto, den Egelverband. Der hat sich bereits bei Atse semigut bewährt: Windelunterlage, Panzerband, Egel – alles zügig am Haxen verbabben, Deckung suchen!

Glücklicherweise musste ich diese Sicherheitsvorkehrung beim Fräulein Krawallitano ganz und gar nicht bemühen, außerordentlich artiglich ließ sie sich das Beinchen blutig ratschen und schaute auch nur bedingt verwundert, als Muddi stundenlang versuchte, die Schleimis anzudocken.

Und hier kommen wir nun zum eigentlichen Thema, das mich umtreibt. Werden die Egellieferungen in der Zuchtstation immer extra nach einer Charakterauswahl zusammen gesetzt? Ähnlich wie die Gummibärchen in der Tüte, da gibt’s ja auch stets welche von jeder Farbe? Haben Egelfarmen und Fruchtgummihersteller vielleicht geheime Kooperationen? Wenn ja, wann schaffen die es dann endlich Blutegel je nach Charakter auch in dementsprechenden Farben zu liefern. Das würde die Sache arg vereinfachen und vielleicht könnte man dann einfach nur noch pflichtbewusste Streber züchten, in anderen Zuchten hat das ja auch schon funktioniert.

Bisher findet man in jedem Egelglas aber nach wie vor neben mindestens einem Streber auch noch einen Verweigerer, einen betreuten Trinker und eine Ulknudel – und die sehen alle absolut gleich aus!

Oder sind da eher gruppendynamische Prozesse für verantwortlich? Bei Menschen bildet sich ja angeblich auch immer eine ähnliche Typenverteilung in einer Gruppe heraus: Anführer, Gegenspieler, Gefolgsmänner/frauen, Mitläufer und das schwarze Schaf. Leider reicht meine Egelliebe bei weitem nicht dafür aus, in dieser Richtung ernsthafte Studie zu betreiben und zudem bin ich ohnehin eher praktisch veranlagt. Also los, ran mit den Dingern an die Gräten!

Als erstes versucht man sich zumeist einen betreuten Trinker zu grabschen. Den kann man dann erstmal nen Kilometer langziehen, weil der sein Glas einfach nicht loslassen will. Und die Dinger können wirklich wie Pattex kleben. Also gibt man irgendwann bereits leicht entnervt auf und versucht erneut sein Glück. Wenn einem die Losgöttin nun wohler gesonnen ist, erwischt man jetzt einen pflichtbewussten Streber: einfangen, ansetzen, festsaugen, fertig. So muss das laufen, die Zuversicht wächst. Als nächstes greift man sich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit wieder den betreuten Trinker (die Dinger sind einfach nicht zu unterscheiden), diesmal ist der aber schon vorgelockert, außerdem sinkt mit zunehmender Genervtheit auch die Hemmung, seine volle Menschenkraft gegen das kleine Biest einzusetzen. Plopp, der betreute Trinker lässt los. Recht zielstrebig sucht er sich auch sogleich den besten Platz an der Bar und dockt an. Allerdings ist er nun ums Verrecken nicht bereit, mit dem Saugknopf-Ende den Gummihandschuh los zu lassen. Gefühlte Stunden später, unter Androhung von roher Gewalt, und mehrfachem beenden der Blutsaugetätigkeiten zu Gunsten des sicheren Handschuh Hafens, erhält Mensch dann doch seine Freiheit zurück und kann sich beispielsweise dem Verweigerer widmen.

Bei diesem eher lustlosen Kandidaten fühlt man sich genötigt, erst mal desen Vital-werte zu überprüfen. Wie eine Sardine aus der Dose lässt er sich über den Fingern baumeln und versucht nur angeekelt eine halbwegs annehmbare Ansaugstelle zu finden, entscheidet sich dann aber doch immer wieder spontan dagegen. Wer nicht will, der hat schon, ab geht’s in ein Extraglas, damit dem dann vielleicht doch noch einsetzende mitternächtliche Fressflash kein vollgesaugter Mitegel der pflichtbewussteren Fraktion zum Opfer fällt.

Schließlich hat man ja auch noch die Ulknudel zu versorgen. Das ist auf Grund meiner mangelhaften Kenntnisse der Egel-Mimik eigentlich ein recht oberflächliche Bezeichnung. Die Ulknudel könnte in Wirklichkeit nämlich auch schwerst depressiv und leicht suizidal sein. Auch möglich wäre eine Neigung zur Adrenalinsucht, denn dieser Vertreter liebt scheinbar den freien Fall. In vorgetäuschtem Eifer springt er förmlich vom Finger an den Ort seines Auftrages, nur um sich dann sogleich theatralisch auf den Betonboden fallen zu lassen. Dieser Vorgang wird dann mehrfach wiederholt, inklusive Abwaschen des Stallbodenmodders in der Selbsttänke, um ein gewisses Maß an Keimfreiheit zu erhalten, bis die Ulknudel genug hat und sich dann doch zur Nahrungsaufnahme herablässt. Jetzt hat man noch ein wenig Zeit, den Verweigerer mehrfach vergeblich zu seinem Glück verhelfen zu wollen, bis sein erster Kollege fertig ist mit seinem Job.

Erstaunlicherweise lassen sich die Egel nicht in der Reihenfolge ihres Arbeitsbeginns pappsatt hintenüber fallen und müssen vor todbringenden Pferdehufen gerettet werden – nein, das Feld wird wieder von hinten aufgerollt. Zuerst frönt die Ulknudel ihrer wahren Passion, dem freien Fall, dann gibt etliche Zeit später zumeist der betreute Trinker auf. Der Wort wörtlich verbissene Streber wird dann eher aus purer Verzweiflung irgendwann mit irgendeiner funktionierenden Lösung aus der Stallapotheke zwangsentkoppelt. Schließlich macht der späteste Supermarkt in der Umgebung schon um 22.00 Uhr zu und nachdem ich mir das ganze Gefuttere betrachten musste, hab ich jetzt irgendwie auch Hunger.

Puh, endlich fertig, und nun geht’s mit 2 statt mit einem Egelglas wieder zurück nach Hause. Ob der arme kleine Verweigerer wohl nicht nur unter Hunger, sondern auch an Vereinsamug leiden wird? Vermissen die drei anderen ihren Kumpel? Welche tiefgreifenden Eingriffe in die Gruppendynamik im Egelglas habe ich verursacht? So viele ungelöste Fragen in diesem Universum …

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